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Jedes sechste Kind in Deutschland ist seit Beginn der Corona-Pandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßigkeiten und Knabbereien: Das zeigt eine repräsentative Elternbefragung, die die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München durchgeführt hat. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat 1004 Familien im März und April 2022 zu den Ess- und Bewegungsgewohnheiten ihrer Kinder befragt. Die Erkenntnisse sind besorgniserregend.

„Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmierend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthochdruck, einer Fettleber oder Diabetes führen“, sagte Susann Weihrauch-Blüher von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Oberärztin an der Universitätsklinik Halle/Saale.

Schlechte Angewohnheiten scheinen sich zu verfestigen

Schon in den ersten Monaten der Pandemie ließen sich besorgniserregende Entwicklungen feststellen, wie eine Umfrage im September 2020 zeigte. Neun Prozent der Kinder hatten seit Ausbruch der Pandemie an Körpergewicht zugenommen. Vor allem die ungesunde Ernährung und fehlende Bewegung, wirkte sich negativ auf das Körpergewicht von Kindern und Jugendlichen aus. Diese schlechten Angewohnheiten scheinen sich verfestigt zu haben.

So haben 70 Prozent der Eltern bei der Befragung angegeben, dass ihr Kind seit Beginn der Pandemie die Freizeit häufiger vor Medien wie Fernseher, Smartphone, PC oder Spielekonsole verbringt. 44 Prozent der Kinder bewegten sich laut Umfrage seit Beginn der Corona-Pandemie weniger als vorher (49 Prozent gleich viel, immerhin 7 Prozent mehr als davor). Bei 33 Prozent der Kinder hat sich dementsprechend die körperlich-sportliche Fitness nach Angaben der Eltern verschlechtert.

Gleichzeitig sind die Ernährungsgewohnheiten bei 16 Prozent der befragten Familien schlechter geworden. Besonders zu Knabberartikel und Süßwaren wurde während der Pandemie häufiger gegriffen. Wobei die Fachleute davon ausgehen, dass Eltern gerade bei ungesundem Verhalten gerne ein bisschen untertreiben.

Zehn- bis Zwölfjährige besonders betroffen

Ernüchternd dabei: „Durch Lockdowns veränderte Gewohnheiten scheinen nicht temporär zu sein“, so die Bilanz der Fachleute. Besonders häufig betroffen sind demnach Kinder aus einkommensschwachen Familien, ohnehin schon übergewichtige Kinder (31 Prozent von dieser Gruppe ernährten sich ungesünder) und die Zehn- bis Zwölfjährigen. In dieser Altersgruppe ist jedes dritte Kind seit Beginn der Pandemie dicker geworden.

„Wir wissen nicht genau, woran das liegt“, sagte Weihrauch-Blüher. Vermutet werde aber, dass es einerseits damit zusammenhänge, dass diese Altersgruppe langsam unabhängiger von den Eltern werde und gleichzeitig die Pubertät einsetze mit verändertem Hormonhaushalt, was sich auf das Gewicht auswirken könne.

Homeoffice verbesserte die Situation in den Familien

Die Umfrage zeigte, dass besserverdienende Familien häufiger die Möglichkeit von Homeoffice hatten. Lag das monatliche Nettoeinkomen über 4500 Euro, war das Arbeiten von zu Hause bei 44 Prozent der Befragten fast die ganze Zeit möglich. Bei den einkommensschwächeren Familien mit unter 3000 monatlichem Nettoeinkommen konnten nur halb so viele fast die ganze Zeit von zu Hause arbeiten. Das scheint Auswirkungen sowohl auf die seelische Stabilität der Kinder zu haben als auch auf die Ernährungsgewohnheiten in den Familien.

So waren Kinder aus ärmeren Familein doppelt so oft „stark“ psychisch von der Corona-Pandemie belastet als Kinder aus einkommensstarken Haushalten (18 Prozent zu 8 Prozent). In Familien, wo die Eltern Homeoffice machen konnten, wurde während der Pandemie mehr gemeinsam gegessen (43 Prozent). Bei den Familien, in denen die Eltern für die Arbeit das Haus verlassen mussten, gaben nur 16 Prozent an, dass mehr gemeinsame Mahlzeiten stattfanden.

Hauner: „Die gesundheitliche Ungleichheit verschärft sich weiter“

„Die Corona-Pandemie hat die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft“, sagte Professor Dr. Hans Hauner, Direktor des EKFZ für Ernährungsmedizin. Durch die Zunahme des Übergewichts bei Kindern drohe eine Epidemie mit gewaltigen Folgen für die Gesundheit der Menschen und auch für das System. Denn die Kosten für Folgeerkrankungen von Adipositas seien enorm, so der Ernährungsmediziner: „Die Politik muss endlich handeln.“

Um das Problem in den Griff zu bekommen, seien eine umgehende Besteuerung von zuckerhaltigen Getränken und ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmitteln zielführende Maßnahmen. Darüberhinaus forderten die Fachleute bei der Vorstellung der alarmierenden Zahlen, dass die Kosten für eine (frühzeitige) Behandlung von Adipositas schneller und einfacher von den Krankenkassen übernommen werden.

Die Pandemie hat nicht nur die Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen verstärkt. Auch Essstörungen wie Magersucht und Bulimie haben zugenommen. Das ergab erst kürzlich eine Analyse von Krankenhausdaten der DAK-Gesundheit. Demnach wurden 2021 rund 40 Prozent mehr Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren wegen einer Essstörung in Kliniken aufgenommen als 2019.

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