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Lange Zeit war es für Marco Schreyl, 50, ein Tabu, über sein Privatleben zu sprechen. Nur wenigen Menschen versuchte der TV- und Radio-Moderator („Die Sonntagsshow“ auf WDR 2, „Im Gespräch“ im Deutschlandfunk Kultur") zu erklären, wieso ihm manchmal die Tränen kamen oder er sich harsch verhielt. Seine Mutter war an Huntington erkrankt, einer seltenen Krankheit, die das zentrale Nervensystem betrifft und zu fortschreitenden, teils massiven psychischen Veränderungen und Bewegungsstörungen führt. Im Interview spricht Marco Schreyl darüber, wie die Erkrankung seine Mutter veränderte, warum er damit an die Öffentlichkeit ging und welche Sorgen er sich selbst macht, eines Tages zu erkranken.

Herr Schreyl, als Fernseh- und Radio­moderator sind Sie normalerweise derjenige, der seinen Gästen Fragen stellt. Wie fühlt es sich an, heute mal auf der anderen Seite zu stehen?

Marco Schreyl: Das ist schon spannend. Weil ich Ihnen auf diese Weise in Ihren Werkzeugkasten gucken kann. Ich schaue mir also heute einfach mal an, wie Sie das so machen …

Puh. Jetzt fühle ich mich ganz schön beobachtet!

Schreyl: (lacht) Also bislang fühle ich mich ausgesprochen wohl!

Das freut mich sehr! Vor allem weil man hört, dass Sie eigentlich nicht so gerne über Privates sprechen …

Schreyl: Das stimmt. Ich habe es wirklich lange Zeit abgelehnt, mein Privatleben anderen Menschen nahezubringen. Ich habe es nie für eine Notwendigkeit erachtet, den Menschen zu erzählen, ob ich lieber Mischbrot oder Baguette esse, es sei denn, es geht inhaltlich irgendwann um Mischbrot und Baguette.

Meine Lebenssituation war irgendwann so heftig, dass es für mich notwendig war, das Erlebte aus diesem schweren Rucksack auszupacken

In Ihrem Buch „Alles gut? Das meiste schon!“ werden Sie ziemlich privat: Sie erzählen von der Huntington-Krankheit Ihrer 2021 verstorbenen Mutter.

Schreyl: Ja. Meine Lebenssituation war irgendwann so heftig, dass es für mich notwendig war, das Erlebte aus diesem schweren Rucksack auszupacken. Und das Geröll, das mich an manchen Tagen und Wochen wirklich kaputt gemacht hat zu sortieren und mir von der Seele zu schreiben. Seitdem ist mein Rucksack leichter geworden.

Bevor Ihre Mutter die Diagnose ­bekommen hat: Hatten Sie je etwas über die Huntington-Krankheit gehört?

Schreyl: Nein, nie. Natürlich hatte ich mir als Einzelkind immer mal wieder Gedanken gemacht: Was passiert mit meinen Eltern, wenn sie mal alt und vergesslich werden, sie vielleicht nicht mehr für sich selbst entscheiden können? Aber dass es diese Erkrankung gibt, habe ich nicht gewusst. Die ­Diagnose hat mich eiskalt erwischt.

Die Krankheit betrifft das zentrale Nervensystem, führt zu fortschreitenden, teils massiven psychischen Veränderungen und Bewegungsstörungen.

Schreyl: Als die Ärzte uns über die Erkrankung aufklärten, war das für mich, wie in einem Horrorfilm zu sitzen. Es ist schlimm genug, wenn jemand körperlich etwas verliert. Aber wenn die Seele und der Geist, die Emotionen und die Empathie verloren ­gehen, dann ist das für alle drum herum schrecklich. Vor allem, weil die erkrankte Person zu Beginn noch so aussieht wie die Person, sie sich aber nicht mehr so verhält.

Dann war die Diagnose für Sie noch schlimmer als die Ungewissheit davor?

Schreyl: Es war wie aus der Schwerelosigkeit, die sich auch schon schlimm anfühlte, ganz bitter aufzukrachen und zwar ohne Fallschirm. Vor allem die Nachricht zu bekommen: Es gibt keine ursächliche Behandlung.

Das Schlimmste war, dass wir nicht mal mehr die Chance auf einen kleinen Rückwärtsgang hatten

Das klingt total ausweglos.

Schreyl: Ja. Das Schlimmste war, dass wir nicht mal mehr die Chance auf einen kleinen Rückwärtsgang hatten. Das wurde uns auch ­gesagt: „Es wird nicht mehr besser. Der ­Zustand, den Sie heute haben, ist der Beste, den Sie zusammen noch erleben können.“

Wie geht man mit so einer Prognose um?

Schreyl: Ich bin damals oft verzweifelt. Wenn meine Mutter mal wieder nachts anrief und mir böse, laute Sachen erzählte, dachte ich häufig: Wenn das nicht besser wird, dann ist das schrecklich. Damit am nächsten Morgen meinen Job zu machen war oft einfach zu viel für mich.

Hatten Sie therapeutische Hilfe damals?

Schreyl: Nein. Und weil meine Mutter mir das Versprechen abgenommen hatte, mit niemandem über ihre Krankheit zu sprechen, habe ich mich auch privat kaum jemandem ­anvertraut. Ganz wenigen Menschen habe ich mich versucht zu erklären: Wieso kommen mir manchmal die Tränen, warum bin ich oft so harsch? Im Nachhinein betrachtet wäre eine Therapie hilfreich gewesen.

Mit Ihrem Buch haben Sie die Krankheit Ihrer Mutter nun aber doch öffentlich ­gemacht. Hadern Sie manchmal noch mit der Entscheidung?

Schreyl: Inzwischen nicht mehr, weil ich sie jetzt so getroffen habe. Davor gab es allerdings ­viele schlaflose Nächte und Gespräche mit Freundinnen und Freunden. Ich glaube aber fest daran, dass – wenn es etwas Übergeordnetes gibt – meine Eltern da oben sitzen und sagen: Gut, dass du es erzählt hast, gut, dass du dich damit beschäftigst.

Als Sohn einer Huntington-Erkrankten haben auch Sie ein 50-prozentiges ­Risiko, das veränderte Gen, das zur Krankheit führt, in sich zu tragen. ­Versetzt einen das nicht in Panik?

Schreyl: Klar gibt es Momente, in denen ich mir denke: Oh, jetzt klingst du gerade wie deine Mutter. Oder wenn ich auf dem Weg ins Restaurant fünfmal gestolpert bin: Das sind natürlich schon die Augenblicke, in denen mein Kopfkino losgeht und ich mich frage: Ist wirklich noch alles okay? Zumal ich ja langsam in das Alter komme, in dem meine Mutter die ersten Symptome hatte. Die Krankheit beschäftigt mich also jeden Tag wieder. Aber sie erdrückt mich nicht.

Bislang haben Sie sich nicht auf das Gen testen lassen.

Schreyl: Nein. Es gibt doch diesen Spruch: Lebe ­jeden Tag, als wäre es dein letzter. Und den sollte man ja erst recht so leben, wenn man in die Glaskugel geguckt hat und weiß, dass das Leben wahrscheinlich schneller enden wird, als man sich das gewünscht hat. Aber warum sollte ich das nicht auch tun, wenn ich es nicht weiß?

Können Sie sich vorstellen, dass Sie irgendwann vielleicht doch in die Glas­kugel sehen wollen?

Schreyl: Das könnte sein. Vielleicht, wenn ich noch mehr über die Krankheit weiß, vielleicht, wenn es klare Anzeichen bei mir gibt, vielleicht weil geteilter Mut, doppelter Mut ist und ich es mit jemandem zusammen mache, der in der gleichen Situation ist wie ich.

Sie haben sich intensiv mit der Krankheit beschäftigt, Pflegeheime besucht und Erkrankte kennengelernt. Ist das Ihr Versuch, Kontrolle über die Situation zu bekommen?

Schreyl: Es ist schwierig, in Zusammenhang mit dieser Erkrankung überhaupt von Kontrolle zu sprechen. Aber ja: Ich wollte wissen, wie das Leben von Menschen mit Huntington aussieht. Um das Leben meiner Mutter besser einordnen zu können. Und um zu wissen: Wie könnte es einmal für mich aussehen? Ich wollte Menschen kennenlernen, die ihr Leben mit der Krankheit meistern. Und jetzt will ich ihnen ein Sprachrohr sein.

Sie wollen mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit erzeugen?

Schreyl: Ja. Und deshalb nehme ich auch gerne jede Gelegenheit wahr, über Huntington zu sprechen. Die Relevanz zu forschen ist bei einer so seltenen Erkrankung vielleicht gering. Aber auch die fünf bis 15 Betroffenen auf 100.000 Menschen sind wichtig! Und es sind ja noch viel mehr, die die Krankheit betrifft: Hinter jedem Erkrankten steht ein ganzer Familien- und Freundeskreis, der mitleidet.

In seinem Buch „Alles gut? Das meiste schon!“ (Kiepenheuer &Witsch) erzählt Marco Schreyl von der Huntington-Krankheit seiner Mutter. Infos zur Huntington-Krankheit gibt es auf der Internetseite der Deutschen Huntington- Hilfe.


Quellen:

  • Frank, W., Lindenberg, K.S., Mühlbäck, A. et al. : Krankheitsmodifizierende Therapieansätze bei der Huntington-Krankheit. In: Nervenarzt : 11.11.2021, https://doi.org/...
  • Bräuer S, Falkenburger B: Gentherapie der Huntington-Krankheit [Gene Therapy for Huntington Disease].. In: Fortschr Neurol Psychiatr: 11.04.2023, https://doi.org/...